Henrik Lüchtenborg
hat geschrieben am 20. November 2021
um
9:44
Es war sehr schön bei Euch zu Lesen :
Aljona freut sich nun auch mal in der Schweitz
gewesen zu sein (:
Wer das erste Kapitel Nachlesen möchte
( ausnahmsweise mal hier die Rohschrift )
Aljona
„Wie mit dem Wind die Wolken zertrieben, so geht das Leben dahin und es verrinnt. Was ist am
Ende von allem geblieben? Nichts! – Keine Hoffnung – keine Sehnsucht – nicht einmal die Liebe…
Nur der Wind, nur der wehende Wind“
Kapitel 1 – Jeder Mensch hat eine Melodie im Kopf
Jeder Mensch hat eine Melodie im Kopf.
Die Großen haben lange und sehr komplizierte Melodien in ihrem Kopf und die Kleinen haben ganz
kurze und lustige Melodien in ihrem Kopf, weiß Aljona. Manche Menschen haben sogar ein ganzes
Orchester in ihrem Kopf, welches ihre Melodie spielt. Nur an langen und langweiligen Regentagen
spielen sie alle im gleichen Rhythmus der fallenden Regentropfen.
Doch an sonnigen Tagen muss der Dirigent aufpassen, dass er vor lauter hüpfenden Noten nicht vom
Podest fällt.
Aber bei manchen Menschen kann Aljona auch spüren, dass sie ihre Melodien nicht gut behandeln
und gar nicht auf sie hören... das macht Aljona oft traurig für diese Menschen.
Doch im Grunde ist sie ein sehr fröhliches Mädchen.
Sie liebt die Wolken, wenn sie sich durch den Wind immer wieder in neue Märchenfiguren
verwandeln.
Und sie mag es, wenn der Wind sich mit den Bäumen unterhält. Da hört Aljona gerne zu. Dann liegt
sie manchmal stundenlang unter diesem riesigen alten Kastanienbaum und lauscht den Plänen des
Windes für den nächsten Tag, wie er sich mit dem weisen Kastanienbaum berät.
Oft plant der Wind etwas umzuschmeißen, um die Menschen ein bisschen zu ärgern, weil sie ihm nie
Beachtung schenken. Zum Beispiel einen Sonnenschirm in einem kleinen Café, während alte Tanten
beim Kaffeeschlürfen über andere alte Tanten, die wahrscheinlich auch gerade Kaffee schlürfen,
lästern... Aber glücklicherweise schafft es der alte weise Kastanienbaum die meiste Zeit, den frechen
Wind von solchen dummen Ideen abzubringen.
Aljona muss so um die 8 Jahre alt sein. So genau hat sie aber nie mit gezählt. Denn in der ersten Zeit
konnte sie ja noch gar nicht zählen und dann, später einmal, war es sowieso nicht mehr
nachzuvollziehen. Und überhaupt fand Aljona es nicht wichtig, wie alt sie war, es war ihr nur wichtig,
dass sie älter wurde.
Vor einigen Tagen aber passierte etwas, was Aljona ganz und gar aus ihrer kleinen fröhlichen
Melodie brachte. Es machte sie ganz durcheinander. So sehr, dass alle Noten kopfüber durch ihren
Kopf taumelten und nur noch merkwürdig schräge Töne von sich gaben.
Der Kopf Doktor hatte festgestellt, dass in ihrem Kopf ein kleiner Knubbel herangewachsen war, der
ihre Melodie immer unterbrach.
Wahrscheinlich, so dachte Aljona, mochte der Knubbel einfach keine Musik. Und wenn jemand keine
Musik mochte, das wusste Aljona genau, dann musste er böse sein. Und genau das hatte der Kopf
Doktor auch Mama und Papa so ähnlich erklärt. Es sei ein böser Knubbel.
Mama fand das so traurig, dass es kein lieber Knubbel sein konnte, dass sie fürchterlich anfing, in
Papas Hemd zu weinen.
Und Papa war fast ein bisschen sauer geworden, dass dieser Knubbel einfach nicht lieb sein konnte.
Zuhause, am Abend dann lauschte Aljona heimlich wie Mama und Papa sich wieder über ihren bösen
Knubbel unterhielten.
Mama weinte schon wieder fürchterlich. Sie war so sensibel, wenn es um das Böse ging. Aljona
dachte oft, dass Mama einfach nicht verstand, dass wenn es etwas Gutes gibt, es ja schließlich auch
etwas Böses geben muss – eben damit das Gute auch schön sein kann.
Ab dem nächsten Morgen sah Aljona gar keine Melodie mehr bei Mama; und bei Papa waren es nur
ganz dumpfe Paukenschläge von einem dicken, müden und tätowierten Piraten gehauen, die noch
zu ihr durchdrangen. Das mochte sie nicht. Das war langweilig und nervig. "Bum, Bum...". Sie
versuchte, dieses "Bum, Bum…" von Papa in ihrem Kopf zumindest zu einem lustigen Rhythmus
zusammen zu werfen – aber es kam immer nur ein blödes einfaches und müdes "Bum, Bum…" dabei
heraus.
Also beschloss Aljona eine Reise zu unternehmen, um für Mama und Papa wieder eine fröhliche
Melodie zu finden. Es wollte nicht in ihr kleines Köpfchen, dass nun alle, nur weil ihr Knubbel ein
bisschen böse war, ihre Melodien verlieren.
Als Mama und Papa ganz fest schliefen – das war nur sicher, wenn Papa anfing laut zu schnarchen –
nahm sie ihren kleinen Rucksack, packte eine Flasche Wasser ein – für etwas zu Essen war ihr kleiner
Rucksack leider zu klein, aber das machte ja nichts, denn sie hatte mal im Park zwei junge Männer
belauscht, wie sie sich auf der Bank vor dem Kastanienbaum unterhielten, als sie gerade den
Zauberspiel zwischen dem Wind und Wolken beobachtete, was der Mensch zum Überleben braucht.
Und da hat der eine gesagt, dass man ohne weiteres ohne Essen auskommen könnte, um den Mount
Everest zu besteigen, aber definitiv nicht ohne Wasser… Deswegen war es ihr lieber, etwas Wasser
mit zu nehmen als Essen... sie wusste ja nun mal nicht wohin sie der Wind und der Kastanienbaum
hinführen werden, um Melodien für Mama und Papa zu finden.
Dann schrieb sie noch einen Brief für Mama und Papa, damit sie sich keine Sorgen machen mussten,
wenn sie morgen früh in ein leeres Kinderbettchen gucken würden.
"Liebe Mama, lieber Papa, Eure Aljona und ihr kleiner böser Knubbel sind auf eine große Reise
gegangen. Wenn wir wiederkommen, bringen wir Euch einen ganzen Sack voller schöner und lustiger
Melodien mit, damit Ihr Euch eine aussuchen könnt, die Euch gefällt. Das könnte aber ein bisschen
Zeit dauern. Aber macht Euch keine Sorgen um uns. Wir kommen ganz bestimmt wieder. Kuss für
Mama, Kuss für Papa, Eure Aljona!"
Und so machte sie sich mutig, wenn auch leise, denn sie wollte Mama und Papa nicht wecken, auf
ihre große Reise, um ganz viele schöne und lustige Melodien zu finden. Doch zuerst musste sie noch
zum alten Kastanienbaum, um sich zu verabschieden. Vom Wind brauchte man sich nie zu
verabschieden – der war ja immer bei einem, wenn man nicht gerade hinter einem verschlossenem
Fenster hockte und sich von seinem ganzen Geplapper einmal zu erholen.